Begrenzte Regelverletzung

Kaum jemand hat das Konzept der begrenzten Regelverletzung so auf den Punkt gebracht wie der Schriftsteller Peter Schneider, der anlässlich eines Sit-ins im Audimax der Freien Universität Berlin im April 1967 zu den versammelten Studentinnen und Studenten sagte:

«Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg in Vietnam informiert, obwohl wir erlebt haben, dass wir die unvorstellbaren Einzelheiten über die amerikanische Politik in Vietnam zitieren können, ohne dass die Phantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre, aber dass wir nur einen Rasen betreten zu brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen. […] Da sind wir auf den Gedanken gekommen, dass wir erst den Rasen zerstören müssen, bevor wir die Lügen über Vietnam zerstören können, und […] dass wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren und uns hier in den Hausflur auf den Fussboden setzen. Das wollen wir jetzt tun.» (Zitiert nach: Schneider, P. (2008): Rebellion und Wahn. Köln, Kippenheuer & Witsch, S. 136-137)

Mit seiner als «Rasen-Rede» in die Protestchronik der 1968er-Bewegung eingegangenen Ansprache schilderte Schneider nicht nur sehr pointiert, wie eine Regelverletzung benutzt werden kann, um über das Eigentliche zu sprechen, sondern stellte auch eine Eigenschaft bloss, die jeder bürgerlichen Gesellschaft inhärent zu sein scheint: nämlich die träge Gleichgültigkeit gegenüber allem, was ausserhalb der geographischen und symbolischen Grenzen bürgerlicher Gemeinschaft geschieht, begleitet von einer permanenten latenten Angst, an der Inszenierung von Bürgerlichkeit persönlich zu scheitern, als ob der Leitspruch gälte: Mag die Welt da draussen auch in Flammen stehen, uns geht das nichts an, doch wehe dem, der es wagt, unsere Inszenierung von innen zu stören.

Es liegt auf der Hand, dass die Missachtung eines «Rasen betreten verboten»-Schildes heute kaum mehr provoziert. Die Fragilität der bürgerlichen Gesellschaft als Bedingung für das Wutpotential des Bürgers im Hinblick auf (zuweilen auch bloss vermeintliche) Regelverletzungen gilt allerdings unverändert, wenn auch die Ursachen dieser Fragilität heute andere sind.

Am Beispiel der Bundesrepublik lässt sich dieser Punkt wunderbar veranschaulichen: Während in den 1960er Jahren die Inszenierung bundesrepublikanischer Bürgerlichkeit aufgrund unvollständiger Vergangenheitsbewältigung, verdrängter Schuld und einer im kollektiven Gedächtnis nach wie vor sehr wirksamen Erinnerung an Krieg und Drittes Reich latent bedroht war, sieht sie sich heute neuen Bedrohungskategorien wie Globalisierung, demographische Entwicklung, Klimawandel, geopolitische Verschiebungen etc. gegenüber.

Damals wie heute braucht es daher nur wenig, um die schweigende Mehrheit aus der Fassung zu bringen und nach radikalem Durchgreifen verlangen zu lassen.  Und damals wie heute sind die Boulevardmedien stets zur Stelle, um das «gesunde Volksempfinden» in die «richtige» Richtung zu lenken. Es mag sein, dass die Angst des Bürgers vor der Regelverletzung nichts anderes ist als sein Unbehagen, wie Sartre sagen würde, vor seiner eigenen Kontingenz, der er nicht entkommen kann, der er sich aber zumindest durch eine bürgerliche Fassade eine Zeit lang zu entziehen versucht.

Immer wieder neu zu reflektieren ist auf jeden Fall die Frage, inwieweit diese Angst, die von manchen Medien so gerne geschürt wird, als Instrument der Menschenführung eingesetzt wird.

(Bild: Kyle Glenn / Unsplash)