Reineckerland

Warum Der Kommissar, den das ZDF zwischen 1968 und 1975 in 97 Folgen produzierte, eine so starke Faszination auf Millionen von TV-Zuschauern ausübte, ist nicht nur rezeptionstheoretisch spannend. Rolf Aurich, Niels Beckenbach und Wolfgang Jacobsen ist es zu verdanken, ein Buch herausgebracht zu haben, das zum ersten Mal das Gesamtwerk von Herbert Reinecker, dem Drehbuchautor der Serie, beleuchtet und interessante Zusammenhänge zwischen Reineckers eigener Biografie und der Wirkung seiner Drehbücher herstellt.

Warum also war Der Kommissar so erfolgreich? Sicherlich war da zunächst einmal die auf das Wesentliche reduzierte Ästhetik der Serie, die bis zur letzten Folge in Schwarzweiss gedreht wurde, obwohl das Farbfernsehen in der Bundesrepublik Deutschland bereits im Jahre 1967 eingeführt worden war. Das langsame Erzähltempo mit den typischen Dialogrepliken und dramaturgischen Pausen, die zu Herbert Reineckers Markenzeichen wurden, unterstrich dabei diese Reduktion. Da selbst kleine Nebenrollen mit bekannten Schauspielern, die fast alle vom Theater kamen, besetzt wurden, erreichten die Dialogszenen eine starke Intensität.

Nebst  Besetzung und Ästhetik waren es aber vor allem die Geschichten selbst, die die Zuschauer in ihren Bann zogen. Stets mit einer guten Portion Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und bedrohter Normalität versehen, trugen sie existenzielle Abgründe rund um Schuld, Verstrickung und Verbrechen in die heimische Fernsehstube.

Dass Reinecker ein Flair für Abgründe hatte, erstaunt nicht, denn seine Biografie liest sich wie ein Spiegel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Im Mai 1945 ist Reinecker 30 Jahre alt und blickt auf das untergegangene nationalsozialistische Deutschland, für das er jahrelang mit Begeisterung geschrieben hatte: zuerst als Redakteur der Zeitschrift Jungvolk, dann als Schriftleiter in der Reichsjugendführung, später als Kriegsberichter der Waffen-SS. Am 5. April 1945 erscheint aus seiner Feder der letzte Leitartikel für Das Schwarze Korps.

Nach dem Krieg verliert sich seine Spur zunächst in der Provinz. Er schreibt für die Feuilletons einiger Zeitungen, wechselt dann aber zum Fernsehen, was sich als kluge Entscheidung herausstellt. Bald beginnt sein Aufstieg zum gefeierten Kino- und TV-Drehbuchautor. Mit dem riesigen Erfolg der Krimiserie Derrick, die in hundert Länder verkauft wird, erklimmt Reinecker in den späten 1970er Jahren endgültig den Olymp des Unterhaltungsfernsehens. In den letzten Lebensjahren plagen ihn zunehmend Depressionen und Erinnerungen an den Krieg. 2007 stirbt er in seinem Haus am Starnberger See im Alter von 92 Jahren.

Letztlich blieb Herbert Reinecker nach 1945, wie er in einem Interview selbst einmal sagte, ein Heimatloser. Ein Autor, der in der Nachkriegszeit nie wirklich offen über seine Rolle im Dritten Reich sprach, sie aber auch nie verheimlichte. Ein Mann, der in seinen Geschichten oft Kritik am Wertezerfall der modernen Gesellschaft übte, aber genau wusste, dass die Ideale, an die er in seiner Jugend im Dritten Reich geglaubt hatte, durch Krieg und Massenmord jegliche Legitimität verspielt hatten.

Seine unvollendet gebliebene Aufarbeitung persönlicher Schuld und Verstrickung schlägt sich deutlich in seinen Geschichten nieder, die stets ein widersprüchliches und ambivalentes Bild des Menschseins zeichnen. Nicht zuletzt diese Widersprüchlichkeit ist es, die die 97 Folgen der Kommissar-Serie so einzigartig macht und über das Niveau eines gewöhnlichen Krimis hinauswachsen lässt.

TitelReineckerland. Der Schriftsteller Herbert Reinecker
Autor(en)Aurich, Rolf; Beckenbach, Niels; Jacobsen, Wolfgang
ErschienenMünchen 2010: Edition Text + Kritik im Richard Boorberg Verlag
Umfang330 S.
PreisCHF 41.90

(Bild: Istvan Bajzat / KEYSTONE/DPA)